„Afrikas kollektives Gedächtnis“ – Wie Zeitzeugen die deutsche Kolonisation in Kamerun erinnern

Wenn es um die Kolonialgeschichte geht, greifen Wissenschaftler häufig auf die schriftlichen Überlieferungen weißer Kolonialherren und Missionare zurück. Das wollte der Historiker Prinz Kum’a Ndumbe III. nicht mehr hinnehmen und befragte mit seinen Studenten hochbetagte Zeitzeugen.

Von Barbara Weber | 06.02.2020

erschienen beim Deutschlandfunk

 

„Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt…“
Kamerun, Edéa, Dezember 1983, Papa Omog Thomas Franz erinnert sich noch gut an die Nationalhymne der Deutschen, als er von dem damals frisch promovierten Historiker Wang Song befragt wird. Papa ist in dem Fall die respektvolle Anrede eines alten Mannes.
Interviewer: „Vielen Dank, Papa! Was heißt das?“
Papa Omog: „Der Deutsche … Deutschland steht über den Völkern.“
Interviewer: „Mhmm – Deutschland steht über allen Völkern!?“
Papa Omog: „Allen Völkern.“
Interviewer: „Wann haben Sie das gesungen? … Hier in der Schule?“
Papa Omog: „Ich habe es in der Schule gelernt. … Das war … das war …die Nationalhymne “
Interviewer: „Hier in Kamerun?“
Papa Omog: „In Kamerun, als die Deutschen da waren.“
Papa Omog ging seit dem 3. Dezember 1905 auf die deutsche Schule. Zu der Zeit teilte er das Schicksal mit vielen anderen Kindern in den deutschen Kolonien.
„Wenn man jetzt diese Alten hört, ob jetzt in Douala in Beija, in Yaoundé, dann erzählen sie praktisch das gleiche. Wie hat die Schule angefangen? Die Missionar kommt, sagt zum König oder zum Dorfvorsteher, ich brauche Kinder, gib mal Kinder, und die Kinder kommen dahin zu diesem Unterricht, der auch sehr religiös, also christlich religiös geprägt war. Und wenn ein Kind gefehlt hat, wissen Sie, was dann passiert“, fragt der Historiker Professor Prinz Kum’a Ndumbe III.

Die orale Tradition dauerhaft festzuhalten, ist das Projekt des Historikers Prof. Dr. Prinz Kum’a Ndumbe der III. In der Zeit von 1981 bis 1986 hat er mehr als 170 Zeitzeugen interviewt und nach ihren Erinnerungen befragt. Hintergründe dazu auf dem Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung.

„Wenn das Kind gefehlt hat, dann holt der Missionar einen Soldaten oder einen Polizisten später, weil am Anfang es keine Polizei gegeben hat, sondern nur Soldaten. Und man geht zum Haus des Kindes, das gefehlt hat. Jeder meint, okay, sie wollen das Kind zurückbringen, vielleicht mit Gewalt. Nein, sie holen den Vater, und die ziehen den Vater aus öffentlich, und der bekommt dann 25 Peitschenhiebe vor dem Kind. Das erzählen diese alten Menschen. Sie sagen, die Kinder sind dann so traumatisiert, wie der Vater entehrt wurde, und dann sagen sie, ich will das nicht mehr sehen, ich gehe in die Schule, Und das haben wir aus Beija vom Papa Lampe, das haben wir aus Douala, das haben wir aus Yaoundé. In Yaoundé sagen sie sogar, nicht 25 Peitschenhiebe, sondern 75 bekam der Vater, verstehen Sie?“

Deutsche Kolonialgeschichten

Kolonialgeschichten verliefen häufig nach bestimmten Mustern: Zuerst gründeten die großen Handelshäuser Niederlassungen vor Ort, immer auf der Suche nach neuen Märkten und neuen Produkten wie Kautschuk, Elfenbein und Ebenholz. Europäische Waren wie Stoffe, Spirituosen und Salz hingegen fanden auf afrikanischer Seite viele Interessenten. Die Hamburger Firma Woermann gehörte damals zu den großen deutschen Händlern, die in Westafrika mitmischten, „die eben auch mit dem Export von Spirituosen, ein Vermögen machte und dann eben auch mit dem Import von Rohstoffen aus Westafrika nach Hamburg und über Hamburg dann nach Deutschland und ins Deutsche Kaiserreich, das 1871 gegründet worden war“, sagt Jürgen Zimmerer, Professor für Geschichte Afrikas und Leiter der Forschungsstelle Hamburgs postkoloniales Erbe an der Universität Hamburg.

„Also ich bin jetzt kein großer Experte. Es gibt natürlich auch lokale Produktionen von alkoholhaltigen Getränken. Allerdings dieser Spirituosen Export, der Schnapshandel, für den die Firma Woermann zum Beispiel schon zeitgenössisch auch in Europa kritisiert worden war, der stellte deshalb eine ganz neue Grundlage eben auch mit den Problemen der Alkoholsucht, die man zum Beispiel ja auch aus Nordamerika kennt, also dürfte den meisten bekannt sein. Also man handelte schon mit Rauschmitteln, von dem man wusste, dass sie schwere soziale Verwerfungen in Afrika zur Folge hatten. Firma Woermann wurde unter anderem damit, insgesamt mit dem Handel, aber eben auch mit dem Schnapshandel sehr wohlhabend, sehr einflussreich und dann eben auch für die weitere Geschichte des deutschen Kolonialreiches nicht unerheblich.“

Denn die politischen Interessen trafen mit den wirtschaftlichen zusammen.
„Also die spannende Frage ist, warum Bismarck, 1884/85 plötzlich das Deutsche Reich zur Kolonialmacht machte, obwohl er vorher immer ein Gegner der deutschen Kolonialherrschaft war.“
Der Reichskanzler teilte mit vielen anderen die Überzeugung, dass Deutschland nicht stark genug wäre, um Kolonialmacht zu sein. Zudem fürchtete er Konflikte mit anderen europäischen Mächten. Letztendlich führten innenpolitische Erwägungen zum Meinungsumschwung und zur Gründung des deutschen Kolonialreiches.

„Das geht zurück nicht ganz unwesentlich auf Hamburg, auf die Hamburger Handelskammer, in der vor allem Adolph Woermann … im Namen der Handelskammer Bismarck bat, die Besitzungen Hamburger Kaufleute in Westafrika unter deutschen Schutz zu stellen.“
Es gibt noch weitere Gründe für den Kurswechsel, meint Jürgen Zimmerer: „Es ist wahrscheinlich eine Mischung: zum einen, dass Bismarck die Kolonialbegeisterung oder die kolonial begeisterten Kreise im Reich zufrieden stellen wollte, dass Bismarck eben auch neue innenpolitische Verbündete suchte, und dass natürlich jetzt dieses Schreiben der Hamburger Kaufmannschaft ihm praktisch auch die Rechtfertigung dafür lieferte. Und so kam es eigentlich in enger Zusammenarbeit zwischen der Hamburger Handelskammer und Bismarck, der ja vor den Toren der Stadt seine Residenz hatte, in Friedrichsruh, eben zu diesem Kurswechsel.“

Bismarck als großer Stratege kalkulierte natürlich die rivalisierenden Interessen. Dazu zählten weniger die der afrikanischen Bewohner vor Ort, als vielmehr die der europäischen Mächte, die um Einfluss und Reichtum in den Kolonien buhlten.
„Und im Grunde, um hier die eigene Position durchzusetzen und nun großen europäischen Konflikt zu vermeiden, berief Bismarck eben 1884 die Berliner Afrika Konferenz ein, indem Vertreter der Kolonialmächte sich im Grunde darüber einigten, wie ihre Besitzansprüche angemeldet werden könnten, ohne dass es zu einem europäischen Krieg kommt. Das heißt, afrikanische Interessen, afrikanische Repräsentanten waren nicht zugegen.“

Dem deutschen Kanzler ging es eigentlich nur um das Abwägen der Interessen der europäischen Mächte untereinander. Er wollte auf jeden Fall einen Konflikt innerhalb Europas oder unter den Mittel- und Großmächten verhindern.
„Entsprechend findet man eben, wenn man heute noch eine Karte Afrikas sich ansieht, diese Lineal – Grenzen, diese tatsächlich auf Karten mit Lineal gezogenen Grenzen, die ohne Rücksicht auf lokale Entwicklungen, einfach Gruppen, die teilweise zusammengehörten, in verschiedene Kolonien aufteilte und andere Gruppen, die in historischen Rivalität und Feindschaft zueinander standen, plötzlich in einer Kolonie vereinigte. Und da aus diesen Kolonien dann im Grunde die unabhängigen Nationalstaaten Afrikas hervorgingen, ist ein Teil der Minderheitenprobleme Afrikas tatsächlich auf diese koloniale Grenzziehung zurückzuführen.“

Verwaltung deutscher Kolonien

Die deutschen Kolonien unterstanden zunächst dem Auswärtigen Amt, später dem Reichskolonialamt. Vor Ort an der Spitze regierte der Gouverneur, darunter die Bezirks- und Distriktsamtmänner, neben Juristen häufig auch einfache Offiziere, denen die Machtfülle zu Kopf stieg. Gepaart mit einem rassistischen Grundverständnis führte das systematisch zu Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen.
Die einheimischen Eliten vor Ort wurden häufig eingeschüchtert und zu Schutzverträgen genötigt. Jürgen Zimmerer:
„Der Begriff des Schutzes ist ja auch im Schutzgeld dabei. Und die Logik ist schon einfach auch ähnlich. Das heißt, man zwingt teilweise im Konflikt den Vertragspartner zu sagen, du unterschreibst jetzt, dass du unterm Schutz stehst, und wir schützen dich dann auch gegen deine Feinde. Das waren Verträge, eben Freundschafts- und Schutzverträge, die oft auch nicht freiwillig abgeschlossen worden sind, in denen auch darüber gelogen wurde, was man eigentlich damit machen würde.

Was passierte, wenn ein solcher Vertrag nicht unterzeichnet wurde, weiß Prinz Kum’a Ndumbe III. aus Erzählungen seines Großvaters:
„Also mein Großvater hieß Kum Kumar Mbappe und der Name, der in die Literatur eingegangen ist, ist Lock Priso, er war der König der Bele Bele. Mein Großvater hat gesagt, er unterzeichnet nicht, und sie wissen, dass nachdem mein Großvater dann gesagt hatte, er unterschreibt nicht, hatte es Krieg gegeben. Die haben dann seinen Palast bombardiert“, nicht ohne vorher den Palast zu plündern. „Und sie haben den Tange herausgeholt,“ reichhaltig verzierte Schnitzereien, die den Schiffsbug Kameruner Könige schmückten. „Aus der Forschung sieht man, dass die haben nicht nur einen Tange, die haben mehrere Tanges, diese Schnitzereien, mehrere nach München gebracht. Und es wäre schön, wenn das Münchner Museum für Völkerkunde, das jetzt Museum Fünf Kontinente heißt, wenn die wirklich sagen, was im Depot ist, die haben nicht nur ein Tange in Deutschland.“

Wehren konnte sich König Lock Priso nicht. Die koloniale Rechtsprechung ließ Einheimischen keine Chancen, gegen Weiße vor Gericht zu siegen. Professor Jürgen Zimmerer:
„Wichtig ist, dass der koloniale Staat im Grunde ein rassistisches Rechtssystem anlegte. Das heißt, es gibt meines Wissens in keiner deutschen Kolonie die Möglichkeit, dass im Grunde ein Deutscher, ein Weißer, unter die Rechtsprechung eines afrikanischen Richters, eines afrikanischen Chiefs kommen könnte. Und das ist ganz entscheidend, weil das nimmt nämlich auch diese rechtliche Fiktion, man hätte hier Freundschafts- und Schutzverträge, denn Übergriffe deutscher Soldaten, deutscher Assessoren, deutscher Siedler, Kaufleute et cetera, können eigentlich nur von deutschen Gerichten geahndet werden. Und die ahnden sie meist nicht. Das hängt auch damit zusammen, dass im Grunde, da sind wir wieder beim Thema Rassismus, Afrikanern einfach die grundsätzliche Glaubwürdigkeit abgesprochen wurde, um überhaupt vor Gericht als Zeuge aufzutreten.“

Die Rechtlosigkeit der einheimischen Bevölkerung

Der 96-jährige Papa Pegha André schildert seine Erlebnisse während der Kolonialzeit in der Landessprache Basaa. Die Rechtlosigkeit der einheimischen Bevölkerung habe sich auch bei Arbeitseinsätzen gezeigt, die nicht selten tödlich verliefen, zum Beispiel bei den Bauarbeiten an der Eisenbahnstrecke in Njok:
Interviewer: „Haben die Deutschen euch dort in „Njok“ überhaupt nicht entlohnt?“
Pegha André: „Die Arbeiter von „Njok“ bekamen nur spärliche Mahlzeiten!“ …
Interviewer: „Ach ja?“
Pegha André: „“Njok“ hat über eine Million Menschen das Leben gekostet.“
Interviewer: „Was wart ihr damals für sie?“
Pegha André: „Ach, Arbeitstiere! So konnte man auch die vielen Todesfälle problemlos rechtfertigen! Du weißt das nicht, man wurde oft mit dem Stock geschlagen…Unsere Körper waren mit Prellungen überzogen, wegen der schlechten hygienischen Zustände in unseren Barackenlagern und der schlechten Behandlung. … Diese Arbeiten wurden in Ketten ausgeführt und unter Peitschenhieben, damit niemand sich ausruhte.“
Die knapp 180 Interviews – alle in den 1980er aufgenommen – konnte Prof. Prinz Kum’a Ndumbe III. mit seinem Team mit Hilfe der Gerda Henkel Stiftung transkribieren und übersetzen. Schon 23 zweisprachige Bücher mit Originalinterviews brachte die von ihm gegründete Foundation AfricAvenir heraus. Weitere sollen folgen. Seine Motive:

Afrikanische Geschichte – neu geschrieben

„Schauen Sie, es ist ein Wahnsinn, dass die Geschichte afrikanischer Länder, sagen wir mal in den letzten hundert Jahren, aufgeschrieben wurde von den Kolonialherren aus ihrer Sicht und in ihren Sprachen, mit ihren Dokumenten. Und nach der Unabhängigkeit afrikanischer Länder, wo man dann Universitäten aufgebaut hat und afrikanische Forscher angefangen haben, über ihre Geschichte zu forschen, da merkte man, dass auch diese afrikanischen Forscher eigentlich mit europäischen Dokumenten der Kolonialherren arbeiten müssen, um ihre eigene Geschichte überhaupt zu verstehen oder interpretieren zu können. Und da habe ich mir gesagt, damals in den achtziger Jahren, das kann nicht gehen.“

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