Eröffnungsrede des Botschafters Haiti in Deutschland
Am 23.11.2008, anlässlich der Eröffnung des Festivals "200 Jahre später…" hielt der Botschafter der Republik Haiti in Deutschland, Herr Jean Robert Saget eine Eröffnungsrede, die wir hier mit seiner Erlaubnis veröffentlichen. nExcellenzen,
Meine Damen und Herren,
Liebe Freunde der Freiheit und der Gerechtigkeit, nEs ist für mich eine große Freude, am heutigen Nachmittag bei Ihnen zu sein und die Ehre zu haben, mit Ihnen die Auftaktveranstaltung zu einer ganzen Reihe von Gedenkveranstaltungen zu eröffnen, die an die Abschaffung des europäischen, des transatlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei vor 200 Jahren erinnern. nErlauben Sie mir zunächst, den Organisatoren, insbesondere Frau Philippa Ebéné und Herrn Eric van Grasdorff, sowie den Gästen dieses besonderen Ereignisses zu danken, auch im Namen des haitianischen Volkes und seiner Regierung, die ich hier vertrete. nUnsere Dankbarkeit gilt diesem Aufruf zur Besinnung und Erinnerung an viele bekannte und auch unbekannte Helden, die den Weg zu einer Ära von mehr Menschlichkeit überhaupt erst geebnet haben, durch die die Ideale von Freiheit und Gleichheit für Millionen unterdrückter Menschen Wirklichkeit werden konnten. nNichtsdestoweniger, während wir uns hier zusammengefunden haben, um an eben diese Menschen zu erinnern, die ihr Leben für die Freiheit gegeben haben, eröffnen wir trotz dieser uns traurig stimmenden Erinnerung, die Diskussion über ein neues Zeichen der Hoffnung, die die ganze Welt nach der Wahl von Barack Obama zum ersten afro-amerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika beflügelt hat. nDas Nebeneinander dieser beiden Ereignisse drängt sich einem auf und trifft das imaginäre Kollektiv, denn die Wahl eines Abkömmlings afrikanischer Schwarzer an die Spitze eines Staates, der früher die Sklaverei praktiziert hat, ist eine mächtige Bürde mit hoher Symbolkraft, die etliche Fiktionen und Legenden von der Minderwertigkeit bestimmter Rassen wieder aufkommen und die leidenschaftliche Begeisterung der Verfechter der Gleichheit wieder aufflammen lässt, zu denen wir alle hier im Saal wahrscheinlich gehören. nDie Hoffnung blüht wieder auf, die Hoffnung auf eine neue Ära der kulturellen Mischung der Rassen und die Hoffnung, dass das universelle Ideal der Gleichheit – seit mehr als 3 Jahrhunderten von weitsichtigen Männern und Frauen proklamiert – lebendig ist und bleibt, und sich im weltweiten Bewusstsein fest verankert. Diese so wichtige Etappe in der Geschichte der amerikanischen Gesellschaft zieht alle Völker mit in ihren Bann und beflügelt alle hoffnungsvollen Erwartungen. nDie Menschen im 21. Jahrhundert fühlen sich der Fortsetzung dieses Weges unbeirrt verpflichtet – trotz der Auseinandersetzungen, die wir noch zu bestehen haben, um die Sklaverei endgültig auszumerzen, die es heute noch in verschiedenen Gegenden auf unserer Erde gibt. nGewaltige Herausforderungen stehen besonders den Menschen in Haiti trotz des Weges, den wir seit unserer Unabhängigkeit im Jahr 1804 zurückgelegt haben, noch bevor. Das Gedenken heute an die Zeit, als vor 200 Jahren der europäische, der transatlantische Sklavenhandel aufgehoben und die Sklaverei abgeschafft wurde, weckt schmerzliche Erinnerungen an eine nicht allzu ferne Vergangenheit und an eine nicht weniger schmerzhafte Tatsache, wie schwierig es für uns war, den Nachwehen dieser Vergangenheit zu entrinnen. nDie zahlreichen plötzlichen Veränderungen und unerwarteten Ereignisse, die Haiti seit dem glorreichen Aufstand 1791 unter der Führung von François Dominique TOUSSAINT LOUVERTURE (1743-1803), genannt „Der schwarze Napoleon“, erlebt hat, haben weder die rühmenswerte geschichtliche Bedeutung erlangt noch die gerechte Würdigung des außergewöhnlichen Beitrags erfahren, den sie für die weltweite Entwicklung der Menschenrechte geleistet haben. nDer chronische Zustand der Unterentwicklung, in dem sich unser Land seit der einseitigen Proklamation seiner Unabhängigkeit befindet, verdunkelt diese bedeutende geschichtliche Wahrheit. nEine klare, rücksichtslose Bilanz deckt die langanhaltenden Zeiträume der Diktaturen auf, die zahlreichen Staatsstreiche, fehlende Infrastrukturen auf mehreren Ebenen, die für einen Aufstieg des Landes förderlich gewesen wären. All dies und viele andere Mängel und Lücken demonstrieren immer wieder das Scheitern dieses so großartigen Projekts, eine gerechtere, eine menschlichere Gesellschaft zu schaffen, die sich auf die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit – wie die Französische Revolution – gründen wollte, und für die Tausende ohne Zögern ihr Leben geopfert haben. nGleichwohl erinnerte der Sieg, durch eine tapfere Armee von Sklaven errungen, deren Wahlspruch „Leben in Freiheit oder sterben“ lautete, die ganze Welt daran, dass jedermann, sogar in Ketten gelegt und einer unerbittlichen Macht unterworfen, danach streben konnte, die Welt zu verändern, und die Pflicht hatte, sich gegen diese Niedertracht zu erheben, um die Freiheit als sein unveräußerliches Recht einzufordern. nDiese Druck- und Stoßwelle rüttelte alle Kolonien auf und wird Jahre später eine Quelle der Inspiration für emanzipatorische Kämpfe anderer Völker, die damals noch von Kolonialmächten beherrscht waren. nAls TOUSSAINT LOUVERTURE durch Verrat verhaftet und nach Frankreich deportiert worden war, wo er allein und krank in einer eiskalten Zelle starb, äußerte er sich so: „Indem ihr mich zum Schweigen bringt, habt ihr nur den Stamm des Baumes der Freiheit für die Schwarzen gefällt. Er wird wieder nachwachsen mit all seinen Wurzeln, die tief verankert und zahlreich vorhanden sind“. nSklavensohn, geboren als Sklave – sein legendärer Kampf für die Abschaffung der Sklaverei legt Zeugnis ab von der Eigenart und Besonderheit menschlicher Bestimmung sowie von der Vielseitigkeit seines unerschütterlichen Willens, eine bessere Welt zu schaffen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Mitmenschen. nJean-Jacques DESSALINES (1758-1806 / als «Jacques I.» war seit 1804 Kaiser von Haiti), der den Kampf bis zur Unabhängigkeit fortführen und beenden sollte, verdient ebenso unsere Bewunderung, als er die Entscheidungsschlacht schlägt, er, der die Armee Napoleons besiegt, indem er seine Soldaten mit dem Schlachtruf „Wir alle werden sterben für die Freiheit“ anfeuert. nKonnte es einen schlagenderen Beweis für unsere so lange geleugnete Menschlichkeit geben, um den schändlichen Umgang miteinander zu rechtfertigen, der so viel zu dem Reichtum der heute höher entwickelten Nationen beigetragen hat? nIch würde mir nie verzeihen, den nicht weniger heldenhaften Kampf Tausender Europäer, Bürger und Würdenträger, unerwähnt zu lassen, die sich unablässig für die Freiheit eingesetzt und an unserer Seite gekämpft haben. Diejenigen, die lange und zäh zu unseren Gunsten verhandelt und auch ihr Leben für die Freiheit gegeben haben, die sie als Grundrecht für jeden Mann und jede Frau erachteten und nicht als ein Privileg, das an die Hautfarbe oder an ein bestimmtes Schicksal gebunden war. Deren Kampf hat die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei beschleunigt. (Ich denke zum Beispiel an Victor SCHOELCHER und Dominique Francois Jean ARAGO, an die deutschen und polnischen Soldaten des Expeditionscorps von Napoleon, die desertiert haben und gemeinsame Sache mit den Aufstaendischen gemacht haben e t c .) nDer Kampf ist lang, doch wir geben uns dennoch nicht von vornherein geschlagen. Wir sind uns der Länge des noch vor uns liegenden Weges bewusst, und wir schaffen es, unsere Inspiration aus dem Mut unserer Helden zu schöpfen, den Gründungsvätern unseres Heimatlandes. Ebenso wie sich die Idee der Abschaffung des Sklavenhandels, erstmals im Jahr 1794 öffentlich vertreten, etliche Jahre später (so 1848 in Frankreich) durch das Ende der Praxis der Sklaverei durchgesetzt hat, müssen wir feststellen, dass die meisten kolonialisierten Länder noch heute unter den anhaltend harten Folgeschäden und zuweilen unvorhersehbaren Nachwirkungen dieser von kolonialer Ausbeutung gekennzeichneten Vergangenheit leiden. nDies entlastet uns nicht von der Bürde unserer nationalen Verantwortung bezüglich unserer Misserfolge. Immerhin gestattet diese weltweite Perspektive, die verschiedenen Probleme besser zu verstehen, denen wir in aller ihrer Vielfalt gegenüberstehen. Dieser ganzheitliche Ansatz, diese Herangehensweise wird es uns ermöglichen, weltweit neuartige Lösungen anzubieten – auf der Grundlage von auf die Gleichheit aller gerichteten Beziehungen, politisch und sozial, sowie basierend auf brüderlichen Banden mit anderen Ländern und Völkern. nDieses Gedenken bietet auch Gelegenheit, sich daran zu erinnern, dass unsere Unterschiede, bezüglich materiellen Reichtums, nicht auf eine Ãœberlegenheit oder Minderwertigkeit der einen gegenüber den anderen zurückzuführen ist.
Diese Unterschiede haben eigentlich ihren Ursprung in dem ungerechten historischen Kampf, in dem diejenigen, die durch Waffengewalt unterjocht worden waren, ihre Rechte haben aufgeben müssen, ebenso ihre Reichtümer und ihre Hoffnungen zu Gunsten derjenigen, die heute reichlich davon haben.
Es ist indes noch wichtiger, sich der unermesslichen Opfer dieser kolonialisierten Völker zu erinnern, ihres heldenhaften Widerstands, ihres unglaublichen Ãœberlebenswillens, ihres geistigen und kulturellen Reichtums, fest verwurzelt in jahrtausendealten Traditionen, die – manchmal paradoxerweise – das Gegenstück zu den übertriebenen Erscheinungen des modernen Lebens und zu der geistigen Leere darstellen, die durch den Ãœberfluss an materiellen Gütern und durch einen Individualismus bis zur Unmäßigkeit bedingt ist. nAll jene, die unvoreingenommen, ohne jegliches Vorurteil unterwegs sind, haben die Erfahrung einer solchen Art „Erscheinung“ gemacht, wo die Begegnung mit einem anderen zu einer Begegnung mit einem Teil seiner selbst geworden ist …
Könnten wir in demselben offenen Geist internationale Kooperationen in einer weltweiten Perspektive ansteuern, wo die Anerkennung des anderen als einem gleichwertigen Partner und das aufrichtige Bemühen um Wiedergutmachung unseren Gedankenaustausch leiten? nDie globalen Herausforderungen, mit denen wir heute unter anderem auf dem Gebiet des Umweltschutzes konfrontiert sind, bestärken meine persönliche Überzeugung, dass wir als Menschen sehr viel mehr an Gemeinsamkeiten denn an Unterschieden haben, und dass unser Schicksal untrennbar miteinander verbunden ist, ob wir das nun wollen oder nicht. nDie Ära kultureller Mischung der Rassen fordert uns dazu auf, gegen Ignoranz und Vorurteile zu Felde zu ziehen, die in letzter Konsequenz zum Erlöschen der Menschheit führen könnten. nSchließlich wäre angesichts der Tragödie, die der Handel mit den Schwarzen und deren Verbringung in die Sklaverei für die Menschlichkeit bedeutet, das bloße Erinnern vergeblich und kraftlos ohne den tatsächlichen Willen, eine neue Partnerschaft zu begründen, die auf ehrlicher Solidarität beruht, die über der Bestimmung nationaler Interessen der Wohlhabenden auf Kosten der weniger Begüterten steht. nWir können das definitive Ende der Sklaverei beschleunigen, indem wir deren gefährliche Folgen beseitigen, die sich in Unterentwicklung und fortwährender Verschuldung zeigen, die die Zukunft von Millionen von Menschen belasten und sie als Sklaven der Armut aufrechthalten. nWir können ein solches Erbe unseren Kindern hinterlassen, wenn wir bereit sind, unerbittlich und unablässig daran zu arbeiten. nS. E. Jean-Robert SAGET (Botschafter der Republik Haiti)
Berlin / Werkstatt der Kulturen (23.11.2008)