„Frankreich und Deutschland verstehen sich noch immer als weiße Länder“ – Interview von Rokhaya Diallo im Tagesspiegel

Rokhaya Diallo ist TV-Journalistin, Regisseurin und Antirassismus-Aktivistin. Das Magazin Slate zählte sie letztes Jahr zu den 100 einflussreichsten Französinnen. Der Tagesspiegel sprach in Berlin mit ihr, wo sie "Les marches de la liberté" vorstellte, ihre Dokumentation über die erste Massendemonstration, die 1983 arabische und schwarze Franzosen für gleiche Rechte initiierten. von Andrea Dernbach und Albrecht Meier

Tagesspegel: Vor mehr als 30 Jahren brachte der „Marsch gegen Rassismus und für Gleichheit“, später „Marche des beurs“ genannt, in Frankreich Zehntausende Menschen auf die Straße. Hat er etwas verändert?

RD: Er hat sicher die Wahrnehmung verändert. Neue und nicht nur weiße Gesichter wurden sichtbar und es wurde auch klar, dass diese Leute nicht irgendwann nach Afrika und in den Maghreb zurückkehren würden.

Inzwischen haben wir schwarze und arabische Ministerinnen und rassistische Taten bleiben, anders als vor drei Jahrzehnten, nicht mehr folgenlos. Aber viele Forderungen von damals sind nicht erfüllt. Und der Marsch ist fast vergessen, nicht nur unter weißen Franzosen. Dabei gäbe es auch heute viele Gründe zu marschieren.  

Tagesspegel: Woran denken Sie vor allem?

RD: Damals wie heute kommen junge Leute durch Übergriffe der Polizei ums Leben. Deren Kontrollen nach Rasse-Gesichtspunkten sind ein wesentlicher Punkt. Francois Hollande wollte diese Praktiken abschaffen, aber Manuel Valls, zunächst Innenminister und heute Premier, war dagegen. Ein anderes Thema ist das Ausländerwahlrecht. Schon Mitterrand hatte es damals versprochen, doch es ist bis heute nicht verwirklicht.

Tagesspegel: Ist Frankreichs Polizei ausreichend ethnisch gemischt?

RD: Es gibt inzwischen auch maghrebinische Polizisten, aber sie sind immer noch eine Minderheit. Das Problem der Polizei, die in den Banlieues eingesetzt wird, ist aber auch, dass sie von außerhalb kommen und dass sie meist sehr jung sind. Sie geraten unerfahren an Nachbarschaften, die sie nicht verstehen und die sie geradezu als Feinde ansehen. Das ist nicht einfach Rassismus.

Tagesspegel: Frankreich wird aktuell sozialistisch regiert. Hat das Folgen für den Umgang mit ethnischer Vielfalt?

RD: Im PS, der Sozialistischen Partei, gibt es nicht einmal eine Debatte darüber, nicht über Rassismus, nicht über Islamophobie. Dabei hielten wir die Partei immer für unsere natürliche Verbündete. Doch es gibt keine Verbündeten, man könnte von einem Verrat der Linken sprechen. Schon der Protest vor dreißig Jahren wurde vom PS enteignet, kolonisiert. Das war relativ einfach, weil die Leute, die damals aktiv wurden, wenig politische Erfahrung hatten. Aus dem Protest wurde die PS-Erfindung „SOS Rassismus“ …

Tagesspegel: … mit dem Slogan „Rühr meinen Kumpel“ nicht an, der auch nach Deutschland exportiert wurde.

RD: … und seine Themen wurden moralisiert: Rassismus galt als etwas Schlimmes, aber als eine Art persönlicher Verfehlung. Dabei ist er systemisch und muss auch im System bekämpft werden. Man muss sagen: In der Justiz und der Wohnungspolitik gab es Erfolge. Aber in der Polizei zum Beispiel ist alles beim alten geblieben.

Tagesspegel: Und die Wahlbeteiligung nichtweißer Franzosen sinkt und sinkt.

RD: Es gibt eben keine Partei, die ihre Interessen vertritt.

Tagesspegel: Sie selbst würden sich in keiner engagieren?

RD: Ich bin in keiner Mitglied, aber ich stehe „Nouvelle Donne“ nahe, die die Linke an ihr eigenes politisches Erbe erinnert.

Tagesspegel: Bei der Europawahl haben besonders wenige Franzosen abgestimmt.

RD: Und am wenigsten in den armen Wahlkreisen. Ich denke, vielen Leuten erscheint Europa noch immer zu abstrakt und zu fern.

Tagesspegel: Einen Durchbruch hat diese Europawahl aber für den rechten Front National bedeutet. Rechnen Sie mit etwas Ähnlichem für die  Präsidentschaftswahl 2017?

RD: Ich fürchte, die FN-Vorsitzende Marine Le Pen wird es dann in die Stichwahl schaffen. Ihr Anti-Eliten-Programm verfängt, übrigens gerade bei den Jungen. Unglücklicherweise kommen sehr viele junge Leute, die heute in Frankreich in die Politik gehen, aus dem FN.

Tagesspegel: Warum geben so Bürger, die doch in die multikulturelle Gesellscahft hineingewachsen sind, einer rassistischen Partei ihre Stimme?

RD: Der Grund ist Angst. Darunter sind viele ohne Berufsabschluss, die sich abgehängt sehen und den Eindruck haben, dass nicht ihnen, sondern den Banlieues geholfen wird. Aber sie sind eben auch noch mit dem Mythos eines großen und mächtigen Frankreich aufgewachsen. Das gibt es nicht mehr und das wird als Verlust erlebt.

Tagesspegel: In den Köpfen ist jenes Frankreich „black, blanc, beur“, das Blau-weiß-rot ergänzen sollte, noch nicht da? 

RD: In der Realität sind wir sehr dicht dran. Auch dass Leute wie ich inzwischen eine Rolle in den Medien haben, zeigt das. Aber daher kommt ja die Aggression. Und man muss sagen, dass sie von den Eliten ausgeht, die immer noch sehr weiß sind – und auch sehr männlich. Sie sind die, die den Multikulturalismus bremsen. Wer Geld hat, will keine Vermischung.

Tagesspegel: Ist das irgendwo in Europa anders?

RD: Die Briten jedenfalls setzen sich – anders als wir – mit ihrer neuen Vielfalt auseinander. An den Universitäten wird dazu massiv geforscht und Brutalität und struktureller Rassismus in der Polizei wurden dort schon in den 1980er Jahren zum Thema. Inzwischen wandern junge afrikanische oder maghrebinische Franzosen nach England aus, weil sie dort arbeiten können, ohne diskriminiert zu werden.  Frankreich wie das Vereinigte Königreich sind beides postkoloniale Länder. Während aber Großbritannien sich als multikulturell akzeptiert hat, verstehen sich Frankreich – und mir scheint, auch Deutschland, man sah es in der Sarrazin-Debatte – noch immer als weiße Länder. Das lässt sich an der Kultur ablesen. Die Eliten sind weiß – auch die Medien, bis hin zur linken „Libération“ – aber auch Theater und Kino. Vergleichen Sie britische Fernsehserien mit unserer Filmproduktion!

Tagesspegel: Nennen Sie ein Beispiel?

RD: Vor kurzem habe ich den Film „Sous les jupes des filles“ gesehen, international unter „French women“ (Französinnen) im Kino. Es geht um elf junge Pariserinnen, aber ich habe mein Paris nicht wiedererkannt: Alle waren weiß. Wenn man Paris kennt – wie kann man Pariserinnen nur so weiß darstellen?

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